Eigene Texte

Etwas, das gleichzeitig mit etwas anderem geschieht

Heft zu Papierarbeiten / Works with Paper 2018 – 2019

Ein Bogen Papier: auf der einen Seite hat ein Bogen Papier ein bestimmtes Format, Volumen, Gewicht, eine bestimmte Struktur, das Weiß hat im Vergleich zu anderem Papier einen bestimmten Ton. Auf der anderen Seite sind wir so vertraut mit einem Bogen Papier, dass wir es nicht mehr als ein sichtbares Medium wahrnehmen. Das Weiß des Papiers begleitet uns wie ein Spiegel. Es ist uns Projektionsfläche oder Gedächtnis, eine Vorstellung, mit der das, was wir als Zeichen erkennen, seinen Grund, seine Fixierung erst findet.
Mit Öl und Acryl habe ich auf verschiedenen Materialien, Holz, Aluminium, Leinwand oder Papier, gemalt. Aus dem Umgang mit der Leichtigkeit und Form­ barkeit des Papiers hat sich eine eigene Arbeitsweise aus Setzungen, Faltungen und Schnitten entwickelt.
Der Bogen Papier: eineinhalb Meter hoch und einen Meter breit, hängt der Bogen flach vor der Wand. Mit farbiger Wachskreide setze ich die erste Markierung. Die erste Markierung ist nichts Besonderes, aber genug, dass es ein Oben und ein Unten gibt, ein Rechts und ein Links, eine Vorder­ und eine Rückseite. Das Blatt eröffnet einen Handlungsspielraum. Ich beginne mich zu orientieren. Mit jeder weiteren Markierung strukturiert sich ein Feld. Jede Markierung bezieht sich auf das, was sie umgibt, und eine folgende Markierung verändert die Lage, Farbe und Gewichtung auch der vorangegangenen. Schneide ich eine Markierung aus, ersetze ich diese Stelle durch ein gleiches Papier oder ein anderes weißes Papier. In dieser leichten Verschiebung im Weiß zeigt sich die Eigenfarbigkeit des Papiers als eine aktive Farbigkeit. Die negierte Stelle ist zugleich eine aufbewahrte, positive, auf die eine folgende Faltung sich dann wieder bezieht. Es ist ein Hin und Her zwischen Setzung und Aufhebung. Dabei wandert der Rand in die Fläche des Feldes und die Fläche wandert an ihren Rand. Mit jeder Markierung auf dem Blatt ist das Blatt ein Grund und mit jedem Schnitt, jeder Falte ist das Blatt Figur. Es gibt wenige Ereignisse in diesen Bewegungen, die nicht eine Spur hinterlassen. Das Blatt ist zugleich Quelle und Grund, der diese Bewegungen notiert. Die Farbe Weiß dominiert. Auf dem Weiß des Papiers bleiben Flecken, Punkte und Linien, Reste unterschiedlicher Farbigkeit; in dem Papier bleiben die Schnitte und Falten. Es ist ein Geflecht von Beziehungen, ein nicht reduzierbares Zugleich unterschiedlicher Momente.
Diese unterschiedlichen Momente finden ihren Zusammenhang im Moment der Umsetzung. Es geht um Wahrnehmung, um die Orientierung in einer konkreten Situation, in einem Zusammenhang, innerhalb dessen sich die Frage nach einer Richtung stellt. Wie entscheide ich mich? In dem Zugleich unterschiedlicher Momente kommt es zu einem Zustand der Unentschiedenheit. Unterschiedliche Möglichkeiten sind zu sehen, die sich in der Schwebe halten. In dieser Ambivalenz zeigt sich eine besondere Eigenschaft von Bildern. Diese besteht im Fehlen, in einem Entzug von Bildern. Ein entscheidendes Moment der Erfahrung mit dem Blatt ist diese Abwesenheit.
James Geccelli

Something that is happening at the same time as something else

A sheet of paper: On the one hand a sheet of white paper has specific characteristics, it has a certain format, volume, weight and structure and the white has a certain tone in comparison with other papers. On the other hand we are very familiar with a sheet of paper, such that we no longer consider it a visible medium. The white of the paper accompanies us like a mirror. It is a projection screen of memory, an ideal space on which we first recognize form as sign (figure), where it finds its ground, its fulcrum.
I used to paint with oil and acrylic on different materials such as wood, aluminum, canvas or paper. The handling of paper’s lightness and malleability has developed into a unique way of working, consisting of marks, folds and cuts.
The sheet of white paper: one and a half meters high and one meter wide it is hanging flat on the wall. With a colored wax crayon I make the first mark on the white sheet. The first mark is nothing special, it marks a top and a bottom, a right and a left, a front and a back. The sheet opens up a stage for potential action and I begin to find my footing. With each action, a field is structured. Each mark refers to what surrounds it and every subsequent mark also changes the position of the preceding mark, its weight and tone. When I cut out a mark, I replace it with the same paper or a different white paper. With this slight shift in white, the inherent color of the paper emerges as its active color. At the same time the excised area is then preserved, one, to which a subsequent fold relates in a back and forth of marking and effacing. The edges of the sheet push into the surface and the surface pushes to the sheet’s edges. With each mark the sheet turns into a ground, and with every cut, every fold in the paper, the sheet turns into a figure. There are no events in these movements that do not leave a trace. The sheet is both a source and a ground to record these movements. The white dominates. Within the white of the paper spots, dots, and lines, of different colours, the cuts and folds subsist as a network of relationships, an irreducible simultaneity of different moments.
These different moments find their context in the actions of a practice. It is an orientation within a practice, a concrete situation, in a context within which the question of a direction is posed. The perception itself is at stake at this moment. In the simultaneity of opposing states different possibilities are to be seen that hold themselves in the suspension, in an indeterminate state. In this ambivalence, one characteristic of images emerges. The lack, the absence of the image is a decisive moment of experience of the sheet.
James Geccelli

Für Suse Wiegand, DABEI – viele tage lang buch
Zirkel und Schlauch


Was passiert da mit Zirkel und Schlauch? Wenn ich das, was ich sehe, versuche zu beschreiben, gehe ich da nicht schon mit den Worten „Zirkel und Schlauch“ von einer Aufgabe aus, einer Funktion in einem größeren Ganzen, dem die so bezeichneten Dinge zugehören? Aber die Figur aus Zirkel und Schlauch gehört diesem Ganzen nicht richtig an, sie liegt eher daneben.
Er war früher Teil einer monumentalen Gruppe in einer durchdachten Anordnung von Sinnbildern des Soldatenlebens, der Künste, der Wissenschaften, der Handwerker. Eigentlich ein barockes Instrument: der Stech- oder Reißzirkel. Hier einer mit Stellschraube, einer Schraube, die nicht nur zur Feststellung, sondern auch zur Sicherung des Abstands zwischen den Schenkeln angebracht ist. Ich sehe die Hand, wie sie wie ein geübter Handwerker den Zirkelkopf sicher umfasst und mit einer leichten Drehung des Handgelenks aus dem festen Stand des einen Schenkels in einem Punkt, mit der Spitze des anderen Schenkels quasi um sich selbst in die Oberfläche des Materials den fließenden Punkt der Maßlinie reißt. Das ewige Schweigen der unendlichen Räume hat dem barocken Menschen das Schaudern gelehrt. Hier nun zieht die sichere Hand die Maßlinie für ein Werkstück, um mit ihm eines der vielen Dinge herzustellen, um dem maßlos gewordenen Raum, der diese Dinge umgibt, ein Maß zu geben. Die Zeugungskraft des Punktes, jedes Ding ist in ihm und geht von ihm aus.
Die Figur aus Reißzirkel und Schlauch bildet jedoch hier eine andere Situation. In der Krümmung des transparenten Schlauchs sehe ich hinein in einen Hohlraum, einen trüben Innenraum. Dem Zirkel ist dort jede Grundlage, jeder Halt entzogen. Ja, es ist, als ob die beiden Spitzen des Zirkels sich in dieser Schlaufe auf sich selbst zurück biegen würden und es entsteht der Eindruck, als sei damit auch die Expansionsbewegung des Punktes in sich selbst zurück gebogen. Kein Zentrum, keine Peripherie, die eine geometrische Beziehung eingehen könnte: es zeigt sich die Unmöglichkeit einer solchen Beziehung. Geschlossen gegenüber dem Rest, ohne Öffnung auf etwas anderes. Nur die Transparenz des Materials gibt mir an dieser Stelle den Blick frei und macht mich in diesem Moment in eigenartiger Weise zu einem Zeugen. Aber zu einem Zeugen von was? Zu einem Zeugen eines Blicks. Vielleicht zum Zeugen meines Blicks. Für einen Moment ist der Blick auf sich selbst verwiesen, ein Gefühl von Nacktheit, gefangen im eigenen Blick. Wie in der Schlaufe, in der die beiden Spitzen des Zirkels sich aufeinander beziehen, als würde sich die Sicht des einen Auges zurück biegen in die Sicht des anderen: ein Hohlraum des Blicks ohne Gegenstand, ein Blick ohne Entfernung.
James Geccelli Berlin 2013

Zu Christoph Maulers Buchobjekten

Die der Form des Buches innewohnende Linearität der Schrift wird bei den Buchobjekten von Christoph Mauler im Akt des Malens mit der Simultanität der Geste konfrontiert. Was sukzessive und was simultan ist, ist hier nicht entgegengesetzt. Es bildet sich vielmehr eine in sich verwobene, eine in sich spiegelnde Struktur, die sich mit der Geste, der Geste des dargestellten Sujets einerseits und der Geste des Malens andererseits, ereignet.
Das Sujet hat Christoph Mauler aus der medialen Darstellung der Warenwelt, Verpackungen und deren Reproduktion in den Printmedien, entwickelt. Eher grob gespritzt, manchmal wie angeworfen, ist der Farbauftrag, matt und unbunt zwischen schwarz und weiß, hält sich die Farbigkeit.
Wie sich im Buch die Dinge als Relief oder Abweichung aus der Fläche entfalten, wie sie als berührbare Körper aus der Seite des Buches mir entgegenklappen, bleiben dennoch die Dinge entfernt von mir und ich bleibe entfernt von ihnen. Aber diese Distanz erweist sich als seltsame Nähe. Mit und in der Zeit, die sich zwischen der Geste des Malens und der Darstellung der Geste ereignet, zeigt sich eine Ambivalenz zwischen Faszination und Verwirrung.
Es heißt, dass eine Praxis im Umgang mit den Dingen eine wesentliche Quelle von Sprache ist, indem der Umgang mit den Dingen eine strukturelle Übereinstimmung des Körpers mit den Regeln und Anforderungen des Gebrauchs bildet. Die Geste des Malers hat hier die Ordnung der Bezüge verschoben. Die Buchobjekte von Christoph Mauler führen mich an den Rand einer sprachlosen Praxis, als würde hier die Bewegung für einen Moment innehalten, bevor das Ineinandergreifen von Sprache und Praxis sich schließt.
James Geccelli Berlin 2010

On Christoph Mauler’s book objects

In Christoph Mauler’s book objects the linearity of writing inherent in the form of the book is confronted with the simultaneity of gesture in the act of painting. What is successive and simultaneous is not contradictory here. Rather, an interwoven, reflecting structure is created, which occurs with the gesture, the gesture of the depicted theme on the one hand and the gesture of painting on the other.

Christoph Mauler developed the theme from the media representation of the world of goods, packaging and its portrayal in print media. Rather roughly sprayed, sometimes as if thrown on, the colour application is matt and uncoloured, somehow lingering between black and white.

Despite things unfolding in the book as relief or deviation from the surface, and how they fold towards me as tangible bodies from the page of the book, they nevertheless remain distant from me and I remain distant from them. But this distance proves to be an inexplicable closeness. With and during the time that occurs between the gesture of painting and the representation of the gesture, an ambivalence between fascination and confusion appears.

It is said that actual practice when dealing with things is an essential source of language, in that dealing with things forms a structural agreement of the body with the rules and requirements of usage. The painter’s gesture has shifted the order of relations here. Christoph Mauler’s book objects lead me to the edge of a speechless practice, as if the movement pauses here for a moment before the interweaving of language and practice closes.
James Geccelli Berlin 2010

Translation by Megan Hayes with thanks to icon-verlag